Gastkommentar zur Gründung

Erschienen am 12. März 2021 in der Tageszeitung „Die Presse“

"Und wo waren Sie...?"

Wahlrecht und Pressefreiheit, Bürgerrechte und Gewaltenteilung: Die demokratiepolitischen Rahmenbedingungen, die wir heute für selbstverständlich halten, mussten Menschen vor langer Zeit erst einmal erkämpfen. Als Gesellschaft ist uns das selten bewusst. Das macht unsere Demokratie verletzlich. Die Österreichische Demokratiestiftung will das ändern. Ein Aufruf, sie gemeinsam aufzubauen.

Von Josef Barth, Marianne Schulze, Christoph Konrath

Stellen Sie sich vor, Österreichs Demokratie wird 100 Jahre alt und keiner geht hin. So fühlten sich einige der Verfassenden dieses Textes ein wenig, als sie am 12. November 2018, dem „Tag der Republik“ mit mitgebrachten Bechern vor dem Parlament alleine anstießen. Wir wollten feiern, am liebsten mit vielen anderen gemeinsam, doch fanden wir nichts, wo man das als Normalsterbliche hätte tun können. An derselben Stelle sammelten sich 100 Jahre zuvor tausende Menschen und feierten das Ende von Monarchie und Krieg und ihre neuen Bürgerrechte. Es war ein Jubeltag, der auch heute noch einer sein müsste. Wo waren Sie damals, als unsere Demokratie 100 Jahre Bestehen feierte?

Wahrscheinlich wissen Sie es nicht mehr. Das ist gar nicht weiter erstaunlich oder beschämend. Im Gedächtnis der meisten Österreicherinnen und Österreicher ist dieses Datum nicht verankert. Auch wissen wir wenig über die Revolution 1848, die jene Bürgerrechtsbewegung war, die zusammen mit anderen Faktoren zum Aufbau unserer Demokratie führte.
In Österreich sind solche Ereignisse oft mehr Teil von Parteiengeschichte als Republiksgeschichte. Jede politische Fraktion feiert unterschiedliche Aspekte derselben Ereignisse und versucht, sie für sich zu vereinnahmen. Selbst dieser „Tag der Republik“ ist nicht frei von parteipolitischer Bedeutung. So zeigt etwa das Denkmal zur Gründung der Republik neben dem Parlament ausschließlich Vertreter einer Partei und es braucht seitlich Zusatztafeln, um die Beteiligung der anderen Parteien zu dokumentieren.

Staatswesen vor Parteipolitik

Genau so wie mit der Geschichte der Demokratie ist es heute mitunter mit der Demokratie selbst. Politische Parteien erheben Anspruch darauf, die größten Demokratinnen und Demokraten zu sein. Dabei müssten wir die Demokratie doch gemeinsam und unabhängig von Parteifarbe alle gemeinsam feiern können. Schließlich ist doch allen wichtig, dass die Regeln, nach denen wir leben, auf geordnete und durchschaubare Art zustandekommen und die Kontrolle dieser Regeln gut funktioniert.
Demokratie ist nichts, das man an jemanden delegieren kann, der sie dann stellvertretend für alle anderen durchführt. Dennoch überlassen wir sie oft anderen, allen voran Politikerinnen und Politikern alleine. Immer wieder sieht es dann so aus, als könnte Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Meinungen nur bestehen, wenn ein ständiger Wettlauf der immer extremeren Positionen besteht und jede Seite stärker dagegenhalten will.

Der gemeinsame Boden, auf dem politische Überschneidungen möglich sind, scheint immer öfter leer zu bleiben, und der demokratische Rahmen dabei oft nur als nötiges Beiwerk betrachtet zu werden. Dabei ist doch der Versuch einer Einigung zwischen den verschiedenen Kräften, das Bedenken von Minderheitsmeinungen und das Festhalten an gewissen Grundregeln und unabhängigen Institutionen das, was den Unterschied zwischen Demokratie und anderen Regierungsformen ausmacht. In diesem Rahmen darf, wer demokratisch vom Volk legitimiert ist, Macht ausüben.

Doch wenn es die Parteipolitik ist, die innerhalb dieses Rahmens ihre Macht ausübt, und damit dem Willen der Wählerinnen und Wähler nachkommt: Wie stellen wir sicher, dass dieser Rahmen sich nicht mit der Zeit nach den Vorstellungen der Kräfte verschiebt?

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„Democracy is not a spectators sport“

— Lotte Scharfmann (1928-1970)
aus Österreich in die USA geflohen

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„Demokratie ist kein Zuschauersport“, sagte einst die während der Nazizeit aus Österreich in die USA geflüchtete Lotte Scharfman. Demokratie lebt davon, dass jemand sie ausübt, bespricht und so mit Leben erfüllt. Dabei müssen wir auch ihre Fehler erkennen, darauf hinweisen und durch Verbesserungsvorschläge überwinden. Wenn wir nur darauf warten, dass Politikerinnen und Politiker sie für uns organisieren, könnte es sein, dass wir enttäuscht werden.

Wenn wir beobachten, mit welchen Mitteln autoritäre Regime heute arbeiten und welche Art von Informationspolitik sie machen, sehen wir, dass Macht immer mit dem Erzählen von Geschichten zu tun hat. Geschichten erklären uns die Welt durch bekannte Abläufe. Expertinnen und Experten haben das Problem bei vielen Tagungen über Demokratie treffend analysiert. Am Ende kommt oft heraus, dass es mehr politische Bildung für alle braucht. Dann würde man eine Geschichte, die zwar eine gute Geschichte ist, aber keine wahre, leichter durchschauen. Was aber oft fehlt, ist die gelungene Umsetzung dieser Forderung. Nur wenn diese politische Bildung ganz leicht verfügbar ist und ihre Geschichten gut erzählt, ist sie ein guter Antrieb für das Engagement jedes und jeder Einzelnen. Verschiedene private und öffentliche Institutionen und Einzelpersonen leisten sehr gute Arbeit in diesem Bereich. Doch sie sind noch zu wenige und zu leise.

Nicht auf Ist-Zustand ausruhen

Viele junge und ältere Leute ohne besondere gesellschaftliche Stellung, von links, rechts und aus der Mitte, kämpften während der Revolution 1848 für ihre und unsere Rechte. Nicht selten verloren sie dabei ihr Leben. Jene, die überlebten, hatten eine wichtige Sache verstanden. Man darf sich niemals auf dem Ist-Zustand ausruhen und erwarten, dass Fortschritt von alleine passiert. Zwar richtete man Dank ersten Erfolgen der Revolution den Reichstag, also das erste Parlament ein, doch das allein war noch keine funktionale Demokratie.
Bürgerinnen und Bürger in Wien gründeten daher gleichzeitig den „Demokratischen Verein“. Dieser sollte die Idee der Demokratie weitertragen und darauf achten, dass die Abgeordneten des neuen Parlaments auch wirklich in deren Sinne handeln. Der Verein wollte also den Rahmen, in dem Politik geschah, bewahren und vor Vereinnahmung schützen. Kein unberechtigter Gedanke. Schließlich dauerte es von der Revolution bis zur Demokratie noch ganze 70 Jahre. In kaum einem anderen Land liegen die Daten von Revolution und Einführung der Demokratie zeitlich so weit auseinander. Man hatte inzwischen eine provisorische Lösung geschaffen, die nicht mehr ganz Alleinherrschaft der Monarchie war, aber noch kein ganz demokratisches System.

Auch wir wollen uns heute nicht auf dem Ist-Zustand ausruhen, nicht warten, dass demokratischer Fortschritt von alleine geschieht – und nicht zusehen, sollten etwaige Rückschritte passieren. Darum wollen wir mehr als 100 Jahre nach Ausrufung der demokratischen Republik eine Institution aufbauen, mit dem sich dieser Gedanke auch für die nächsten 100 Jahre sicherstellen lässt: die Österreichische Demokratiestiftung. Ein entsprechender Gründungsverein wurde bereits ins Leben gerufen.

Wir sind der Ansicht, dass es auch heute dringend Orte braucht, an denen unterschiedliche Meinungen friedlich diskutiert werden und sich Verteidiger und Verteidigerinnen extremerer Position auf einem gemeinsamen Boden begegnen können. Orte, an denen man die Geschichte unserer Demokratie hochhält und ihre Geschichten zu erzählen lernt. Jemand sollte heftig widersprechen, wenn jener Rahmen, der politisch Mächtigen ihre Grenzen aufzeigt, in parteipolitischem Interesse verschoben zu werden droht. Und es muss mehr Orte geben, in denen Demokratie und Rechtsstaat einfach erklärt werden. Erst dadurch erkennen wir ihren unschätzbaren Wert und werden bereit, uns für sie so einzusetzen, wie es die Idee verdient – und alle, die sie uns verwirklicht haben. Schließlich sollen uns künftige Generationen nicht eines Tages fragen müssen: „Was war diese Demokratie eigentlich? Und wo warst Du, als sie begann wieder schwächer zu werden?“
Wir laden Sie herzlich ein, diesen Ort gemeinsam mit uns aufzubauen.

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Die Autor:innen sind Initiator:innen des Gründungsvereins
„Österreichische Demokratiestiftung“.